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Zwei Generationen treffen sich. Die angehende Berufsberaterin Nina Kälin im Gespräch mit Pionier Reinhard Schmid

Ich bin Nina, das jüngste Mitglied der S&B-Crew, und beginne in einigen Monaten meine Ausbildung zur Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin. Im Interview mit Reinhard Schmid, dem Gründer von S&B, gehe ich meinem zukünftigen Beruf auf die Spur. Ich will herausfinden, welche Abenteuer und Herausforderungen mich in den nächsten Monaten erwarten und welche Tipps und Tricks mir der erfahrene Berufsberater mit auf den Weg geben kann. Die Antworten von Reinhard zeigen, auf welch unterschiedliche Art und Weise, Menschen ihre Berufung finden. Und das ist nicht nur für angehende Berufsberater:innen interessant.

Nina: Du hast eine Lehre als Mechaniker gemacht, mit Jugendlichen gearbeitet und anschliessend die Ausbildung zum Berufsberater absolviert. 1987 hast du das S&B Institut für Berufs- und Lebensgestaltung gegründet. Wie lange arbeitest du nun schon als Berufs-, Studien- und Laufbahnberater?

Reinhard: Ich habe 1973 mit der berufsbegleitenden Ausbildung beim Schweizerischen Verband für Berufsberatung begonnen. Es war damals erst der vierte Studiengang, und ich musste für die Ausbildung kämpfen, da ich erst Mitte zwanzig war. In den Augen des Verbandes war ich zu jung für die Ausbildung. Erst nach einem Rekurs wurde ich ins Studienprogramm aufgenommen.

Während der Ausbildung habe ich mit einem 70 %-Pensum in Dielsdorf als Berufs-, Studien- und Laufbahnberater begonnen. Auch für diese Stelle musste ich einiges tun: Ich habe gegen 30 Bewerbungen geschrieben. Die meisten Stellenanbieter sind davon ausgegangen, dass ich als Walliser nicht lange in Zürich bleiben werde. Es war für die damalige Zeit ungewohnt, dass sich eine ausserkantonale Person für eine Stelle bewirbt. 1976 schloss ich das Studium als «Diplomierter Berufsberater» ab.

Das heisst, du arbeitest bereits 48 Jahre als Berufs-, Studien- und Laufbahnberater. Wie viele Menschen hast du in dieser Zeit beraten?

Im Vergleich zu einer Person, die in der öffentlichen Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung arbeitet, sind es gar nicht so viele. Ich widmete mich neben der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung immer auch anderen Aufgaben. So begann ich während meiner Zeit in Dielsdorf bereits mit dem Entwickeln einer Berufswahlhilfe für Jugendliche und ihre Eltern. Dieses Werk hiess «Wer bin ich?». Zudem war ich von Beginn weg auch bildungspolitisch tätig und wirkte in verschiedenen Fachverbänden mit. Ich denke, dass ich im Schnitt etwa 50 Menschen pro Jahr beraten habe. Wenn wir das auf meine bald 50-jährige Beratungstätigkeit hochrechnen, sind es vermutlich gegen die 2’500 Personen, die ich persönlich beraten habe. Und mit jeder Woche werden es noch ein paar mehr.

Es gibt mittlerweile fast 2’200 verschiedene Berufe und rund 24’000 Aus- und Weiterbildungen (gemäss berufsberatung.ch). Wie soll ich mir als angehende Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin all dieses Fachwissen aneignen?

Ich kann dich trösten, das musst du nicht. Früher waren Berater:innen gut, wenn sie ein wandelndes Lexikon waren. Sie mussten wissen, wie alle Ausbildungen und Berufe heissen, wie lange sie dauern und zu welchem Abschluss sie führen. Als ich als junger Berufsberater begann, musste ich mich in diesem Punkt gegenüber den erfahrenen Berufsberater:innen behaupten. Aber bereits während meines Studiums wurde die Wissensvermittlung über die vielen Ausbildungen und Berufe anders angegangen. In meinem Studiengang hatten wir auch viele Gesprächspädagog:innen und Therapeut:innen als Referent:innen gehabt. Und Gesprächsführung nach Rogers war ein wichtiges Fach.

Auch die Ideen von Alfred Adler, Begründer der Individualpsychologie und von G. C. Jung, Begründer der analytischen Psychologie, waren ein Thema. Sie haben mich beeindruckt und meine Haltung als Berater geprägt. Die Ausbildung war praxisnah und orientierte sich an der angewandten Psychologie. Später habe ich dank meines eigenen Lehrmittels «Wegweiser zur Berufswahl» viel über die verschiedenen Ausbildungen und Berufe gelernt. Ich habe das Lehrmittel während meinen Beratungen eingesetzt. Dank der Visionsreise und der Berufs-Hitparade, welche die Jugendlichen und die Erwachsenen erstellt haben, konnte ich vieles über die verschiedenen Ausbildungen und Berufe lernen und mein Wissen über die Berufswelt immer weiter vertiefen.

Was sind weitere wichtige Fähigkeiten, welche ich als angehende Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin mitbringen soll?

Das Wichtigste ist, dass du Menschen magst. Unabhängig von ihren Ansichten, Interessen und ihrem kulturellen Hintergrund. Zudem solltest du als Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin Menschen als Ganzes erfassen. Wir leben in einem System, das unser Empfinden und unser Verhalten beeinflusst. Wie sind wir aufgewachsen? Welche Menschen haben uns beeinflusst? Welche Menschen prägen uns heute? Welche Werte sind mir wichtig?

Diese und viele weitere Fragen sind für eine erfolgreiche Beratung zentral. Wenn eine Person zu mir in die Beratung kommt, befindet sie sich meist in einer instabilen Phase. Das heisst, sie ist in einem «Übergang» und häufig auch verunsichert. Prof. Ludger Busshoff definiert diesen Zustand als «kritisches Momentum», da die persönliche Identität infrage gestellt wird. Im Laufe unseres Lebens haben wir immer wieder solche «Übergänge». Sie machen uns besonders verletzlich.

Aus diesem Grund ist es wichtig, dass du achtsam bist, deinen Kund:innen aufmerksam zuhörst und sie so annimmst, wie sie sind. Der Kern einer guten Beratung ist Vertrauen. Dafür müssen deine Kund:innen spüren, dass du sie mit ihrem Anliegen ernst nimmt und dass sie von dir Achtung und Wertschätzung erfahren. Während meiner langen Beratungstätigkeit haben mir viele Kundinnen und Kunden gesagt, dass ich der erste Mensch sei, der ihnen richtig zugehört habe. Präsenz, Echtheit, Offenheit und Neugier ist in Beratungs-Situationen enorm wichtig.

Welches waren die überraschendsten Laufbahnen deiner Kund:innen?

Da gab es viele. Zum Beispiel diesen: Ich erhielt einen Anruf von einer Personalverantwortlichen. Sie sagte mir, dass sie ein riesiges Problem habe. Ein junger kaufmännischer Angestellter sei bisher immer sehr nett gewesen. In der vergangenen Woche hätte er aus dem Nichts heraus einen Tobsuchtsanfall gehabt und die Schreibmaschine in eine Ecke geworfen. Danach bekam er einen Heulkrampf und musste zum Arzt und schliesslich in psychiatrische Behandlung. Ich bot ihr an, dass ich mit ihm spreche, wenn er das möchte.

Als wir die Beratung starteten und unser Lernmittel miteinander durchgingen, zeigte sich schnell, dass er sich für keinen einzigen kaufmännischen Beruf interessierte. Stattdessen interessierte er sich mehr für handwerkliche Berufe wie Maurer, Mechaniker und Spengler. Sein Persönlichkeitsprofil war nicht in Einklang mit seiner Berufswahl. Das zeigt sehr eindrücklich, was geschehen kann, wenn man bei der Berufswahl nicht auf seine Neigungen eingeht.

Der junge Mann machte das KV, weil er nicht ins Gymnasium wollte. Sein Umfeld riet ihm zum KV, weil ihm danach «alle Möglichkeiten offen stünden». Dabei war er ein totaler Bewegungsmensch. Nach der Beratung absolvierte er eine Lehre als Maurer und bildete sich danach zum Polier weiter. Darauf folgte die Ausbildung zum Bauführer und schliesslich wurde er Regionalvertreter Ostschweiz für die Baumaschinen eines renommierten Unternehmens.

Ein weiteres Beispiel ist ein über 50-jähriger Mann. Er leitete die Informatik-Abteilung eines grösseren Betriebs und liess sich trotz seines Alters und mehreren Kindern zum Spital-Seelsorger ausbilden. Ihn interessierten theologische Fragen. Zudem arbeitete er bereits nebenamtlich als Sterbebegleiter.

Kürzlich kam eine 15-jährige Schülerin zu mir. Sie wollte das Gymnasium verlassen, um in den USA Netflix-Schauspielerin zu werden. Ich gab ihr die Möglichkeit, sich mit diesem Traumberuf auseinanderzusetzen. Jetzt bereitet sie sich ernsthaft auf die Aufnahmeprüfung an einer Schauspielschule vor. Dazu bleibt sie erst einmal in der Schweiz und macht einen entsprechenden Vorkurs.

Als Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin solltest du deine Kund:innen ermutigen, sich ernsthaft mit ihrer Vision auseinanderzusetzen. Dazu ist es notwendig, dass du ihnen zeigst, wie sie diese Vision umsetzen können. Meine Erfahrung zeigt mir, dass viel mehr möglich ist, als die meisten Menschen glauben. Menschen können sehr viel Energie freisetzen, wenn sie herausfinden, wofür sie brennen. Dabei ist es wichtig, allfällige Ängste aufzuspüren und Strategien zu definieren, wie deine Klient:innen diese Ängste überwinden können.

Hast du in all den Jahren auch etwas von deinen Kund:innen gelernt?

Ja, vieles! Ich lerne bei jedem Kontakt mit einem Menschen etwas. Jeder Mensch hat seine eigenen, vielseitigen Facetten. Bei all den vielen Geschichten bleibt immer auch etwas für mich selbst zurück. Ich habe durch die Begegnungen mit meinen Kund:innen das ganze Spektrum möglicher Lebenskonzepte erfahren. Ich wurde geduldiger, offener und toleranter. Im Laufe der Zeit lernte ich, immer besser zuzuhören und zu verstehen. Auch was das Lösen von Problemen angeht, konnte ich einiges mitnehmen.

Zu guter Letzt lernte ich dank meinen Kund:innen auch eine Menge über die Arbeits- und Berufswelt. Das S&B Concept und all die Lehrmittel hätte ich ohne sie nie verfassen können. Meine Kund:innen waren meine Expert:innen. Sie lernten mich, dass man Menschen an jenem Punkt abholen muss, an dem sie gerade stehen. Aus diesem Grund habe ich neben dem Lehrmittel für Jugendliche auch eines für Berufstätige, Familienfrauen, Lernende, Mittelschüler:innen, Pensionäre und Stellensuchende entwickelt. Diese Zielgruppen haben allesamt eine andere Ausgangslage und es ist wichtig, bei der Beratung genau dort anzusetzen. Das war ein grosser Lerneffekt für mich. Aus diesem Grund ist auch die erste Phase, die Sensibilisierungsphase, in unseren Lehrmitteln so wichtig. Sie hilft den Leser:innen, sich besser auf die Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer Berufs- und Lebensgestaltung einzustimmen.

Wenn du auf deine eigene Laufbahn zurückblickst: Was würdest du anders machen?

Nichts! Ich wüsste nicht, wofür ich mit meinen bald 75 Jahren so viel Begeisterung aufbringen könnte wie für meinen Beruf. Ich liebe meine Arbeit als Berufs-, Laufbahn- und Studienberater nach wie vor. Zudem bin ich im Nebenberuf Winzer und führe mit meinem Bruder seit 1991 den elterlichen Weinbau-Betrieb im Wallis weiter. Meine Visionen wurden immer auch von anderen mitgetragen und weiterentwickelt. Von meiner Frau, von meiner Familie, von meinen Freundinnen und Freunden und von den Mitarbeitenden des S&B Instituts. Zudem habe ich Glück gehabt, was meine Gesundheit anbelangt. Für das bin ich sehr dankbar.

Welche Schattenseiten gibt es in meinem zukünftigen Beruf?

Dieser Beruf hat es in sich. Er verlangt einem sehr viel ab. Er gibt dir aber auch sehr viel zurück. Wenn jemand dank deiner Unterstützung seine Berufung gefunden hat und so richtig aufblüht, ist das ein grossartiges Gefühl. Es ist wichtig, dass du einen Ausgleich zu deinem Beruf findest. Ich habe seit meiner Lehre immer nur Teilzeit gearbeitet. Zudem ist eine gesunde Abgrenzung zu den Kund:innen wichtig. Du musst spüren, wie viel Hilfe notwendig ist und darfst dich dabei nicht selbst vergessen. Ich persönlich komme im Rebberg zur Ruhe. Das Schneiden der Rebstöcke, das Bauen einer Trockensteinmauer oder das Ernten der Trauben sind für mich wie eine Meditation. Die Zubereitung von Wein ist ein Prozess. Ähnlich wie das Begleiten eines Menschen bei der Berufsfindung. Wie beim Wein braucht auch der Mensch genügend Zeit für den «Gärprozess».

Bis zu meiner offiziellen Pensionierung arbeite ich vermutlich noch knapp 30 Jahre. Wird es auch dann noch Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung brauchen?

Ja, da bin ich überzeugt. Es wird auch in 30 Jahren noch Berufs-, Studien- und Laufbanberater:innen geben. Wir verstehen unsere Arbeit im S&B Institut bereits heute mehr als Berufs- und Laufbahn-Coaching. Vielleicht wird es in 30 Jahren nochmals anders heissen. Aber es wird immer Menschen brauchen, die anderen helfen, ihre Berufung zu finden. Heute gibt es an den Universitäten in Fribourg und Bern die Möglichkeit einer akademischen Ausbildung. Zudem gibt es an den Fachhochschulen FHNW und ZHAW je einen Studiengang.

Vor kurzem war ich an einer Tagung zum Thema Arbeitsintegration. In der Schweiz gibt es mittlerweile 700 Organisationen mit einem solchen Auftrag. Die Arbeitsintegration ist eine neuere Bewegung. Die meisten dieser Organisationen sind erst in den letzten 15 Jahren entstanden. Auch die RAV (Regionale Arbeitsvermittlungszentren) gibt es erst seit gut 25 Jahren. Ich denke, der Fokus wird in Zukunft vermehrt auf die Berufs- und Lebensgestaltung als Ganzes gerichtet sein und weniger auf die reine Fachkompetenz.

Zum Schluss: Du hast 48 Jahre Berufserfahrung als Berufs-, Studien- und Laufbahnberater. Welche drei Punkte soll ich mir in der täglichen Arbeit als angehende Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin immer wieder in Erinnerung rufen?

  1. Gelassenheit und Humor. Fehler zulassen und nicht den Anspruch auf Vollständigkeit haben.
  2. Offenheit. Eine spielerische Herangehensweise und die Freude, mit neuen Möglichkeiten zu experimentieren.
  3. Das S&B Concept und die eigenen Lehrmittel nutzen, um den Beratungsprozess zu strukturieren und dem Gespräch einen roten Faden zu geben.
  4. Mut zu einem eigenen Stil haben und diesen stets weiterentwickeln, damit dir dein Beruf ein Leben lang Spass macht.

Herzlichen Dank für das interessante Gespräch und die vielen wertvollen Tipps, die du mir auf meinen Weg als angehende Berufs-, Studien- Laufbahnberaterin gegeben hast.

nina

Nina Kälin, angehende Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin

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