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Abkürzungen in allen Branchen

Veröffentlicht am 15. Oktober 2021

Wenn man schon einige Jahre Berufserfahrung hat und die Laufbahn nicht gerade linear war, ist man in Kontakt mit verschiedensten Berufen gekommen. Bei manchen denkt man vielleicht, «Wow, so ein toller Beruf!», bei anderen eher: «Das wäre jetzt nicht so meins». Dass ich keine Handwerkerin werden würde, war aufgrund der kompletten Absenz dieser Begabung schon früh klar. Andere Berufe brauchten ein näheres Hinschauen. Gerade bei jungen Kund:innen setze ich dabei auf ein zweistufiges Vorgehen.

Es ist ein nebliger Tag im Oktober. Mir gegenüber sitzt eine junge Kundin, nennen wir sie Mila. Mila ist Oberstufenschülerin und auf der Suche nach der für sie richtigen Lehrstelle. Ideen sind einige da, Interessen ebenso. Mila ist 16 Jahre alt, für ihr Alter sehr reflektiert. Sie möchte den Berufsentscheid bewusst treffen und sucht nach einem Beruf, der ihr Freude macht. Als wir über die Bedeutung von Beruf und Arbeit diskutieren, sagt sie: «Beruf ist das, wofür ich lebe, was ich gerne mache.» Ich bin beeindruckt von dieser Formulierung. Merke aber auch, dass Mila einen gewissen Druck verspürt aus dem Umfeld, nun richtig zu entscheiden. Aber was heisst richtig entscheiden? Der Beruf, der für Person A der perfekte ist, wird Person B langweilen und Person C überfordern. 

Mila kann im Gespräch sehr genau formulieren, was ihre Erwartungen an den Beruf sind. So will sie ihre persönlichen Fähigkeiten und Ideen entfalten können, viel Selbständigkeit und Verantwortung haben, kreativ sein können und mit Menschen zu tun haben. «Ich glaube, Physiotherapeutin wäre ein Beruf für mich», sagt sie, nachdem ich gefragt habe, ob sich seit unserem ersten Gespräch noch was ergeben hätte. Ich notiere mir den Beruf und gehe noch nicht weiter darauf ein.

Wir erarbeiten zuerst strukturiert eine Liste mit konkreten Tätigkeiten, welche Mila Spass machen. Die Liste füllt sich schnell als wir verschiedene Faktoren wie Bewegung, Umfeld, Materialien, Kopf- oder Handarbeit etc. durchgehen. Da steht auch «Kontakt mit Menschen, pflegen, therapieren» auf der Liste. Die Selbstreflexion ist bereits sehr ergiebig. Mit den Ergebnissen der Interessenstests reichern wir die Liste noch etwas an. Bei der Analyse eines Sozial-Interessenstests springt mir die tiefe Bepunktung der Bewegungstherapie ins Auge.

Wie immer bei Testergebnissen, diskutiere ich sie mit der Kundin. «Überrascht dich diese Punktzahl? Bewegungstherapie, da sind wir doch sehr nah an der Physiotherapie.» Gemeinsam schauen wir die Items durch. Da stehen Tätigkeiten wie massieren, Blockaden lösen, einem Patienten eine Kräftigungsübung für den Rücken erklären. «Nein, das ist überhaupt nicht, was ich will» antwortet Mila schnell und überzeugend. Ich nicke und notiere mir das. Die Physiotherapeutin ist es dann wohl nicht, aber wir kommen der Sache immer näher.

Der soziale Bereich fasziniert sie, der Kontakt zum Menschen muss gegeben sein und zwar im 1-1. Ein paar Minuten später sagt Mila: «Nein, unterrichten und erziehen will ich nicht. (Pause) Hm, ok, das mit der Primarlehrerin ist dann vielleicht nicht so eine gute Idee. Es ist manchmal auch für mich überraschend, wie schnell sich Berufsideen auflösen, wenn wir uns in den Gesprächen intensiver damit befassen.»

Mit einer grossen Liste von Tätigkeiten und Ressourcen stärke ich bei Mila das Vertrauen, dass es den Beruf, der ihr Freude macht, auf jeden Fall gibt. Bisher hat sie ihn einfach noch nicht am richtigen Ort gesucht. In den nächsten Monaten werde ich mit Mila intensiv über ihre neuen beruflichen Ideen sprechen und sie diese erkunden lassen. Zuerst am Laptop oder Handy, danach aber unbedingt in der Realität. Denn wir merken über das konkrete Tun, ob uns etwas liegt und Spass macht. Berufe ausschliessen kann man oft gut, wenn man sich intensiv mit sich selbst auseinandergesetzt hat. Dafür brauchte ich weder als Schreinerin noch als Zimmerin zu schnuppern. Wenn dann, gerade bei jungen Menschen, die bisher ausschliesslich zur Schule gegangen sind, 2-3 Berufe als Favoriten feststehen, geht’s ab ins echte Erkunden. Ob Mila eine Lehre als Fachfrau Gesundheit oder doch eher im kreativen Bereich als Interactive Media Designerin anfängt, steht noch in den Sternen. Sobald wir soweit sind, werde ich sie auf die Schnupperlehren vorbereiten und sie die Erfahrungen sammeln lassen, die sie dazu befähigen, den Entscheid auch wirklich mit Bauch und Kopf treffen zu können.

Ich bin gespannt, in welche Richtung meine Kundin gehen wird. Und jetzt schon überzeugt, dass die Selbstwirksamkeit auch bei ihr wirken wird, wenn sie spürt «genau das will ich machen». Dies ist dann nämlich nicht nur ein Satz, sondern eine Haltung, die oft mit fester Stimme und Überzeugung gesprochen wird und sehr oft auch mit einem Strahlen in den Augen. Dann sind wir am Ziel.

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