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Abkürzungen in allen Branchen

Veröffentlicht am 25. September 2020

Eines der wichtigsten Konzepte, welches ich im Rahmen der psychologischen Ausbildung an der FH kennengelernt habe, ist die Selbstwirksamkeit. Und wenn ihr jetzt denkt: «Selbst-was?» habt einen Moment Geduld, denn ich bin sicher, ihr habt das selbst schon oft erlebt. Und zwar unabhängig davon, wie ihr euren Alltag verbringt und welchen Beruf ihr ausübt und auch unabhängig davon, wie alt ihr seid.

Im Rahmen der Laufbahntheorien wurde uns an der Fachhochschule die sozial-kognitive Theorie von Lent, Brown und Hackett näher gebracht. Der Unterricht fand noch vor Corona im Klassenzimmer in Olten statt. Der Dozent mühte sich etwas damit ab, die eingeblendete Grafik zu erklären. «Da gibt es Attribute, die wir mitbringen und wir agieren in einem bestimmten Umfeld. Dort machen wir Lernerfahrungen und das führt dann zu einer Selbstwirksamkeitserwartung, woraus sich wiederum Interessen vertiefen oder verflüchtigen können.» Mindestens die Hälfte der Klasse schaut mehr als skeptisch und irritiert. Das Konzept ist noch nicht angekommen. Der Dozent setzt nochmals zu einer etwas umständlichen Erklärung an und fragt dann in die Runde, ob jemand ein Beispiel aus der Beratungspraxis kenne. Niemand meldet sich. Dann hebe ich meine Hand und meine: «Ich hab ein Beispiel vom Spielplatz, geht das auch?» Der Dozent nickt: «Ja, das ist vielleicht sogar noch einfacher.»

Einige Monate später merke ich, dass ich in jeder Beratung mit dem Thema Selbstwirksamkeit zu tun habe. Kurz vor der Psychologieprüfung sagt eine Schulkollegin zu mir: «Ich muss immer an deine Tochter denken, wenn ich Selbstwirksamkeit lese.» Einprägsam. Wie das? Das Spielplatz-Beispiel ist folgendes: Ich stehe mit meiner 3-jährigen Tochter auf dem Spielplatz vor dem Klettergerüst. Sie möchte rauf und zwar jetzt. Sie möchte, dass ich sie nach oben hebe. Ich sage zu ihr: «Versuche doch mal zu klettern. Ich stütze dich, damit nichts passieren kann.» Sie meint: «Das ist doch viel zu hoch, das schaffe ich nicht.» Ich erwidere: «Versuch es.» Sie beginnt zu klettern. Ich unterstütze sie nur mit Worten, gebe ihr Tipps, wo sie sich festhalten könnte und bestärke sie, durchzuhalten. Als sie oben ist funkeln ihre Augen vor Stolz und sie sagt: «Mami, ich hab das ganz alleine geschafft! Ich bin die ganze Kletterwand raufgeklettert.» Seither erklimmt sie jedes Gerüst mit grossem Selbstvertrauen.

Szenenwechsel. Im letzten Herbst waren wir an einer Gewerbemesse, der BüliMäss, präsent. Und haben dort für Schüler*innen in der Berufswahl einen Parcours organisiert. Sie durften sich Berufe aussuchen, welche sie interessierten und dann mit Berufsleuten sprechen, diese nach ihren Erfahrungen befragen und so herausfinden, ob das ein Beruf sein könnte für sie selbst. Zu Beginn des Parcours kamen die Schüler*innen zu uns, um die letzten Instruktionen abzuholen und wir nutzen die Gelegenheit, kurz mit ihnen zu sprechen. Ich erinnere mich an eine Schülerin, nennen wir sie Tabea. Im Gegensatz zu vielen anderen kam sie alleine. Sie hatte eine lange Liste an Berufen, die sie interessierten und war motiviert, gleichzeitig aber sehr aufgeregt und schüchtern. Ich habe sie im Messegewühl kaum verstanden, sie war so leise. Wir haben zusammen erarbeitet, in welcher Reihenfolge sie mit den Berufsleuten sprechen soll.

Nach 30 Minuten stand Tabea wieder vor mir. «Ich war bei den Pflegeberufen, das war super! Die haben alle meine Fragen beantwortet und ich durfte auch noch in den Krankenwagen. Ich habe sogar noch Berufe entdeckt, die mir gar nicht bekannt waren.» Ich musste mich nicht mehr zu Tabea hinunterbeugen, um sie zu verstehen. Ihre Stimme war lauter geworden, ihre Haltung aufrechter. Sie hatte an Selbstbewusstsein dazugewonnen. Sie hat selbst durch die Gespräche erfahren, dass die Berufsleute sogar sehr gerne bereit sind, über ihren Beruf mit einer interessierten Jugendlichen zu sprechen. Die Szene wiederholte sich noch einige Male. Nach jedem Gespräch kam Tabea kurz bei mir vorbei und berichtete, was sie erfahren hat. Das wichtigste Ergebnis an diesem Tag war aus meiner Sicht die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Das Glänzen in den Augen war das gleiche, wie jenes meiner Tochter auf dem Klettergerüst. Ich habe es selber geschafft und wenn ich das schaffe, dann bin ich auch bereit für weitere Herausforderungen.

Berufe kann man in der heutigen Welt bis zu einem gewissen Grad am Computer oder Tablet erkunden. Aber was dort nicht geht, ist zu spüren, wie sich etwas anfühlt. Ich kann als Beraterin die Eckdaten nennen und auch darauf hinweisen, dass eine Coiffeuse den ganzen Tag stehen muss und Kundenkontakt hat. Nach der Schnupperlehre zu hören «Ich musste immer stehen und mit Leuten sprechen, das will ich nicht», auch das ist Selbstwirksamkeit. Da kann es sein, dass man sich einen Beruf anders vorgestellt hat, als er wirklich ist. Durch das Hineingehen in die Situation finde ich heraus, wie es sich für mich anfühlt und dann gehe weiter auf diesem Weg oder ich nehme eine andere Abzweigung. Sicher aber habe ich für mich selbst entschieden, wie es für mich passt. Genau das ist der Weg, wie wir auch mit unseren Kund*innen arbeiten. Wir begleiten sie auf ihrem Weg herauszufinden, welches das für sie beste Umfeld ist, in dem sie sich am besten entfalten können. 

 

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